Mit Künstlicher Intelligenz Ausbruch von ALS vorhersagen

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – eine schwere Erkrankung des motorischen Nervensystems – ist erblich bedingt, jedoch war ein Großteil der Erblichkeit bisher ungeklärt. Mit Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) gelang es Forschenden um Professor Dr. Alexander Schönhuth von der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld, die Genotypprofile von 3.000 ALS-Patient*innen zu erfassen, aufzuschlüsseln und damit mehr über die Entstehung von ALS zu erfahren. Das neue Verfahren ermöglicht es, mit 87-prozentiger Genauigkeit zu prognostizieren, ob Personen an ALS erkranken oder nicht. Die Forschenden stellen ihre Studienergebnisse in der Fachzeitschrift Nature Machine Intelligence vor.

Der Bioinformatiker Professor Dr. Alexander Schönhuth entwickelt in seiner Arbeitsgruppe Genome Data Science (Genom-Datenwissenschaft) Methoden und Werkzeuge, um mit Zehntausenden von Genomen zu arbeiten und die Daten zu analysieren. Die Arbeitsgruppe gehört neben der Technischen Fakultät auch zum Centrum für Biotechnologie (CeBiTec) der Universität Bielefeld. Ein aktueller Forschungsschwerpunkt von Schönhuths Team ist die Erkrankung amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Sie wird auch als Motoneuronen-Krankheit bezeichnet. Bei ALS nimmt die Bewegungsfähigkeit der Patient*innen im Laufe der Zeit ab und kommt zum Stillstand. Gleichzeitig bleibt die Aktivität des Gehirns komplett funktionsfähig.

„Die Krankheit ALS ist bisher noch in weiten Teilen unverstanden“, sagt Alexander Schönhuth. Er hat die Untersuchung zur Diagnose von ALS geleitet. Vor vier Jahren begann er mit der Forschung zu dem Thema, zu der Zeit noch als Arbeitsgruppenleiter am Centrum Wiskunde & Informatica (CWI) in Amsterdam, dem nationalen niederländischen Forschungszentrum für Mathematik und Informatik. „Wir wissen, dass ALS eine vererbbare Krankheit ist, aber 80 Prozent der Erblichkeit sind bislang unerklärt“, sagt der Bioinformatiker.

Die genetische Architektur von ALS ist kompliziert

„Bei vielen Erkrankungen, die erblich bedingt sind, gibt es überlappende, sogenannte additive Effekte von genetischen Faktoren – zum Beispiel bei Schizophrenie,“, erläutert Schönhuth. „Je mehr dieser Faktoren die Gene aufweisen, um so wahrscheinlicher ist es, dass Personen an Schizophrenie erkranken. Wir können demnach anhand der Gene die genetische Disposition gut erkennen. Bei ALS hingegen ist es viel komplizierter.“ Schönhuth und sein Team nehmen an, dass einzelne Faktoren alleine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ALS führen. Treten diese Faktoren aber gemeinsam auf, ist das Gegenteil der Fall: Es kommt zu keiner Erkrankung. Diese Annahme würde erklären, warum ALS in weiten Teilen unverstanden geblieben ist.

Mit KI-Verfahren genetische Daten von 3.000 ALS-Patient*innen analysiert

Die zentrale Methode aus der Künstlichen Intelligenz (KI), die Schönhuth und sein Team eingesetzt haben, heißt „Capsule Networks“ (Kapselnetze). Damit wurden genetische Daten von 3.000 ALS-Patienten und 7.000 nicht an ALS-erkrankten Personen ausgewertet. „Der große Vorteil dieses Verfahrens ist, dass Überlappungen von Prozessen erfasst werden können.“ Klassische Methoden kommen mit der Menge an Daten nicht zurecht und liefern keine klaren Ergebnisse. „Unser KI-Verfahren zeigt hingegen nachvollziehbar eindeutig, welche Gene und ihre Prozesse für die Entstehung der ALS-Erkrankung besonders wichtig sind“, sagt Schönhuth.

Mehr als 900 Gene gefunden, die bei Entstehung von ALS eine Rolle spielen

Die Ergebnisse der Wissenschaftler*innen zeigen eine 87-prozentige Genauigkeit im Hinblick auf die Prognose, ob Personen an ALS erkranken oder nicht. „Unser Verfahren kann Vorhersagen bezüglich der Erkrankung treffen. Sie ist viel genauer als andere Methoden. Wir haben mehr als 900 Gene gefunden, die eine Rolle bei der Identifizierung der Erkrankung spielen und 644 Gene, die in komplexen Verbindungen interagieren. Diese Zusammenhänge gilt es in anderen Forschungsgebieten weiter zu untersuchen“, führt Schönhuth aus. „Jedes Gen ist in unterschiedlichen biologischen Prozessen eingebunden. Erfahren wir mehr über die Gene, erfahren wir auch mehr über die Prozesse. So tragen unsere Ergebnisse dazu bei, dass von ALS betroffene Menschen ihren Lebensstil anpassen können, um das Risiko für die Erkrankung zu reduzieren. Zudem könnten auch Medikamente entwickelt werden, die bestimmte Prozesse beeinflussen“, erklärt Schönhuth.

Die aktuelle Studie baut auf Erkenntnissen aus zwei großen Verbundprojekten auf:

  • dem internationalen Forschungsnetzwerk „Algorithms for Pangenome Computational Analysis“ (Algorithmen für Berechnungsanalysen des Pangenoms, Kurzname: Alpaca). Die Europäische Union fördert das Netzwerk seit 2020, koordiniert wird es von der Universität Bielefeld.
  • dem internationalen Forschungsprojekt „Pan-genome Graph Algorithms and Data Integration“ (Graph-Algorithmen und Datenintegration für Pangenomik, Kurzname: Pangaia). Die Europäische Union fördert das Projekt ebenfalls seit 2020, koordiniert wird es von der Universität Mailand (Italien).

Die Ergebnisse der Studie sind in der Fachzeitschrift Nature Machine Intelligence am 13. Februar 2023 veröffentlicht worden. Die Nature Machine Intelligence ist eine hybride wissenschaftliche Open-Access-Fachzeitschrift, die Arbeiten aus den Forschungsbereichen Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Robotik veröffentlicht. Die Fachzeitschrift hat einen Impact-Faktor von 25,898 und ist damit auf Platz eins von 114 Zeitschriften in der Kategorie „Informatik, Künstliche Intelligenz“ und auf Platz eins von 113 Zeitschriften in der Kategorie „Informatik, Interdisziplinäre Anwendungen“.

Originalstudie: https://www.nature.com/articles/s42256-022-00604-2

Quelle: Universität Bielefeld

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